Der Verfassungsgerichtshof hält die 5 %-Sperrklausel im nordrhein-westfälischen Kommunalwahlrecht im Hinblick auf die Kommunalwahlen von 1999 für überprüfungsbedürftig
§ 33 Abs. 1 des Gesetzes über die Kommunalwahlen im Lande Nordrhein-Westfalen (Kommunalwahlgesetz) sieht vor, daß Parteien und Wählergruppen, die weniger als 5 % der Gesamtstimmenzahl in der jeweiligen Kommune (Gemeinde oder Kreis) erhalten haben, bei der Verteilung der Sitze im Rat bzw. Kreistag über die Reserveliste unberücksichtigt bleiben. Diese Sperrklausel hat der Landtag bei der Änderung des Kommunalwahlrechts im Zusammenhang mit der Einführung der Direktwahl der Bürgermeister und Landräte ohne Überprüfung unverändert aufrechterhalten. Eine 5 %-Sperrklausel gibt es im Kommunalwahlrecht des Landes schon seit 1948. In einem Urteil aus dem Jahre 1957 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, daß die kommunalwahlrechtliche Bestimmung in Nordrhein-Westfalen, die seinerzeit eine solche Sperrklausel enthielt, mit dem Grundgesetz vereinbar sei.
Die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP) hat am 13. Mai 1994 ein Organstreitverfahren gegen den Landtag wegen der 5 %-Sperrklausel im Kommunalwahlrecht eingeleitet. Ihrer Ansicht nach hätte dieser die Klausel schon für die Kommunalwahlen von 1994 aufheben, zumindest abmildern, wenigstens aber überprüfen müssen.
In dem heute in diesem Verfahren verkündeten Urteil hat der Verfassungsgerichtshof festgestellt, daß der Landtag durch das Unterlassen einer Überprüfung der unveränderten Aufrechterhalten der 5 %-Sperrklausel für die Kommunalwahlen 1999 die Rechte der ÖDP auf Wahlgleichheit und Chancengleichheit unmittelbar gefährdet hat. Im übrigen hat der Verfassungsgerichtshof den Antrag der ÖDP abgelehnt.
In der mündlichen Urteilsbegründung führte Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofs Dr. Dr. h. c. Palm u. a. aus:
Soweit es um die unmittelbar bevorstehenden Kommunalwahlen von 1994 gehe, habe die ÖDP die für die Einleitung eines Organstreitverfahrens gesetzlich vorgesehene Halbjahresfrist versäumt. Denn der Landtag habe schon mit einer im Juni 1993 vorgenommenen Änderung des Kommunalwahlgesetzes eindeutig zu erkennen gegeben, die 5 %-Sperrklausel für die Kommunalwahlen 1994 nicht antasten zu wollen. Ein Organstreitverfahren wegen dieses Verhaltens sei deshalb nur innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten nach der Gesetzesänderung zulässig gewesen.
Für die Kommunalwahlen 1999 habe der Landtag aber die Pflicht, die 5 %-Sperrklausel zu überprüfen. Das ergebe sich aus den Grundsätzen der Gleichheit der Wahl und der Chancengleichheit der politischen Parteien. Der Gesetzgeber müsse eine bei ihrem Erlaß verfassungsmäßige Sperrklausel unter Kontrolle halten. Bei eindeutiger Erkennbarkeit einer Kontrollbedürftigkeit sei zu überprüfen, ob sich die Verhältnisse, die die Sperrklausel gerechtfertigt haben, in erheblicher Weise geändert hätten. Eine solche wesentliche Änderung sei durch das Gesetz zur Änderung der Kommunalverfassung vom 17. Mai 1994 eingetreten. Aufgrund der darin geregelten Direktwahl der Bürgermeister und Landräte hätten die Räte und Kreistage zukünftig nicht mehr die Aufgabe,die kommunalen Hauptwahlbeamten (Gemeinde- bzw. Stadtdirektor und Oberkreisdirektor) zu wählen. Damit habe eine Annäherung an die in Baden-Württemberg und Bayern geltenden Kommunalverfassungen stattgefunden; in diesen Ländern gebe es seit Jahrzehnten keine Sperrklausel im Kommunalwahlrecht.
Der Verfassungsgerichtshof dürfe keine Feststellung dazu treffen, ob der Landtag die 5 %-Sperrklausel für die Kommunalwahlen 1999 aufzuheben oder abzumildern habe. Der Gesetzgeber habe nämlich aufgrund der Überprüfungspflicht zunächst eine eigene Prognoseentscheidung zu treffen; ihr dürfe der Verfassungsgerichtshof nicht vorgreifen.
Im Rahmen seiner Überprüfung werde der Landtag besonders die jahrzehntelangen Erfahrungen zu erheben und auszuwerten haben, die in anderen Ländern der Bundesrepublik Deutschland ohne Sperrklausel im Kommunalwahlrecht gemacht worden seien. Dabei dürfe und müsse er Besonderheiten der nordrhein-westfälischen Rechtslage und Landesstruktur berücksichtigen. Er werde die gegenüber der Vergangenheit durch die Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung erheblich verbesserten Möglichkeiten für die Erfassung und Verarbeitung von Erfahrungen zu nutzen haben. Der Landtag werde sich letztlich zu fragen haben, ob die Gefahr von Störungen der Funktionsfähigkeit einzelner Kommunalvertretungen ein zwingender Grund für Ausnahmen von den Grundsätzen der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit für alle Kommunalvertretungen im ganzen Landesgebiet sei.
- VerfGH 7/94 -